Gestern war wohl einer der bewegendsten und wichtigsten Tage meines bisherigen Lebens: Ich durfte die offizielle Gedenkfeier für die Opfer der
NS-Euthanasie und Zwangssterilisierung in der Topographie des Terrors in Berlin musikalisch umrahmen.
Zum ersten Mal seit meiner Erkrankung wurde ich wieder als Mezzosopranistin vorgestellt - was für ein Gefühl! Doch noch viel überwältigender war das
Gefühl und die Gewissheit, dass ich vor allem als Angehörige eines Opfers, als Enkelin von Walter Frick, seine Musik singen und spielen durfte: das "Wiegenlied" aus dem Jahr 1932.
Opas letzte Ehre
Dass dieses Lied die Anwesenden berührte, hatte auch damit zu tun, dass zuvor Frau Dr. Petra Fuchs vom Alice-Salomon-Archiv Berlin einen Vortrag über
die Kinder-Euthanasie gehalten hatte. Anhand des persönlichen Schicksals der kleinen Irmgard Reinecke erläuterte sie das grausame Vorgehen der Naziärzte.
Des weiteren las der Leipziger Autor Tino Hemmann aus seinem Buch "Hugo - der unwerte Schatz", welches auf berührende Art und Weise die Kinder-Euthanasie aus der Sicht eines kleinen Jungen
schildert. Dass uns alle das darauf folgende Wiegenlied tief berührte, muss nicht weiter erläutert werden.
Auch meine Familie - die der Veranstaltung ja gar nicht beigewohnt hatte - reflektierte mit mir abends den Tag und wir alle waren uns einig: Unser Großvater und Vater Walter Frick hat spätestens
mit dem gestrigen Tag seinen Frieden gefunden. Dass ich seine Komposition in diesem ehrvollen Rahmen präsentieren durfte, war, um meine Schwester zu zitieren, "wie eine letzte Ehre, die jeder
Verstorbene verdient hat".
Kranzniederlegung durch die Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele
Nach der Veranstaltung im Auditorium der TdT fuhren wir zum Gedenkort T4, der sich an der Stelle befindet, an der die damalige "Verwaltungszentrale" der systematischen Krankenmorde ihren Sitz
hatte. Dort legte die Bundesbehindertenbeauftragte Frau Verena Bentele den Kranz nieder und wir konnten die Feier in persönlichen Gesprächen ausklingen lassen und uns austauschen.
Überraschungsbesuch gab es dann noch von der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Claudia Roth - ganz ohne Medien und Aufhebens. Eine tolle Geste.
Wir müssen uns die Geschichte aneignen
Ich wünsche mir, dass Gedenktage wie der 27. Januar nicht einfach zu einer kollektiven Pflicht werden. Der 27. Januar will uns mahnen, er will uns aber auch Hoffnung spenden. Er will uns daran
erinnern, dass wir nicht nur einmal im Jahr - und sei es symbolisch - einen Kranz niederlegen, sondern, dass uns das Gedenken der Ermordeten um seiner selbst Willen begleitet.
Wir müssen uns, so schreibt Elke Gryglewski in der aktuellen Ausgabe der "APuZ" (3-4/2016: Holocaust und historisches Lernen), die "Geschichte aneignen".
Die Topographie des Terrors hat die komplette Veranstaltung als Audio aufgezeichnet - möglicherweise kann darauf zu einem späteren Zeitpunkt zugegriffen werden, etwa über www.gedenkort-t4.eu. Ich werde darüber informieren.
Mechthild-Veronika Burckhardt (Donnerstag, 06 Oktober 2016 16:04)
Dieser Beitrag hat mich sehr berührt.
Er zeigt zum Einen, wie lang es dauerte und noch dauert, bis gerade die medizinischen Verbrechen und Verstrickungen der Ärzteschaft während der Nazizeit aufgearbeitet werden und die Opfer wirklich gewürdigt werden.
Und zum anderen wird dabei auch deutlich, dass durch diese Würdigung - und sei sie auch noch so spät - Frieden wächst, Menschen zur Ruhe kommen.
Es gibt Verstörungen, die nicht verjähren und durch Schweigen nicht zu bewältigen sind.