>1941HADAMAR2016< (Teil 4)

Die Vergangenheit ist nicht "passé"

Es ist immer das gleiche Muster: Der Moment,  in dem man merkt, dass man Freunde gefunden hat und an einem Ort angekommen ist, ist auch jener, an dem es Zeit ist, Abschied zu nehmen.

Vier Wochen lang war die Gedenkstätte Hadamar mein täglicher Arbeitsplatz – vier Wochen, die mir vorkommen wie eine Ewigkeit – und nun soll ich einfach wieder in meinen eigentlichen Alltag zurück?

Um solche „Umbrüche“ zu verarbeiten, brauche ich immer eine Weile. Wenn ich mich auf eine Sache einlasse, tue ich das mit jeder Faser meines Daseins; das ist bereichernd, aber leider auch ziemlich anstrengend. Denn ebenso wie man mit bestimmten Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen „im Gepäck“ in neue Situationen hineingeht, nimmt man schließlich auch neue Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit, wenn man wieder geht.

 

Hadamar ist nicht vergangen

Wenn Schulklassen die Gedenkstätte besuchen, bilden die Mitarbeiter mit ihnen gerne zu Beginn eine Assoziationskette, um zu sehen, was sie bereits über Hadamar wissen oder damit verbinden. Da wird dann zum Beispiel ein Ball hin und her geworfen (die Freude darüber hält sich bei Zehntklässlern in der Regel in Grenzen), und jeder nennt einen Begriff, der ihm oder ihr spontan zu diesem Ort einfällt.

 

Mord – Hass – Nazis – Zweiter Weltkrieg – Unmenschlichkeit – grausam – Anstalt – Kranke

 

Begriffe wie diese fallen oft, und sie sind auch die Essenz dessen gewesen, was ich noch vor vier Wochen mit Hadamar verband. Aber etwas fällt auf, wenn man sich die Kette genauer ansieht: Alle Worte betreffen die Vergangenheit.

Im Zweiten Weltkrieg regierte der Hass auf Andersdenkende und Andersseiende, eben auch auf Kranke. Sie waren der Gesellschaft eine Last, weswegen die Nazis sie auf grausame Art und Weise ermordeten, Anstalten waren Orte der Unmenschlichkeit.

Wenn ich aber nun versuche, meine Erlebnisse der letzten Wochen in einen Satz zu packen, dann lautet dieser ganz klar: Hadamar ist nicht vergangen.

 

Geschichte ist allgegenwärtig

Das Gelände der heutigen Vitos-Klinik, auf dem auch die Gedenkstätte untergebracht ist, repräsentiert Vergangenes ebenso wie Gegenwärtiges. Und indem die Menschen sich im Hier und Jetzt der Geschichte stellen und sich mit ihr beschäftigen, legen sie den Grundstein für die Zukunft - jeden Tag aufs Neue. Hadamar ist, symbolisch gesprochen, sowohl 1941 als auch 2016.

"An einem solchen Ort könnte ich nie leben", dachte ich zu Beginn. An einem Ort mit so viel Geschichte. Aber es sollte nicht lange dauern, bis mir klar wurde, dass es keinen Ort auf der Welt gibt, der ohne Geschichte ist. Sicher, Hadamar gehört zu jenen Stätten, an denen sie - die Geschichte - mit besonders starker Wucht zugeschlagen hat. Daher sind die Wunden, um im Bild zu bleiben, tiefer als andernorts. Aber Fakt ist: Nirgendwo auf der Welt können wir uns der Geschichte, der Vergangenheit entziehen.

 

Vergangenheit heißt Verantwortung

Es gibt viele Möglichkeiten, das Vergangene als etwas Abgeschlossenes zu betrachten. Sprachliche Mittel helfen uns dabei ebenso wie Rituale des täglichen Lebens. Und solche Abgrenzungen brauchen wir auch, alleine schon, um uns selbst zu schützen. Aber nichtsdestotrotz ist zumindest mir nach diesen vier Wochen klar geworden, dass es die Vergangenheit, wie sie bisher für mich aussah, nicht gibt. Denn sie ist nicht vergangen, sie ist nicht passiert, nicht passé (franz. passer = vorübergehen!). Sie reicht doch in vielerlei Hinsicht bis in unser Dasein hinein!

Ich möchte diese Blogreihe mit Worten von Margot Friedländer beschließen. Sie hat Theresienstadt überlebt und ihre Erlebnisse in ihrem Buch „Versuche, dein Leben zu machen“ festgehalten. Vor Jahren besuchte ich eine Lesung dieser beeindruckenden Dame.

„Sie alle hier“, sagte sie zum Schluss, „Sie haben keine Schuld an dem, was damals geschehen ist. Aber sie haben eine Verantwortung. Bitte sorgen Sie dafür, dass so etwas nicht wieder geschieht."

Kommentare: 1 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Anita (Mittwoch, 30 März 2016 19:41)

    Liebe Julia, ein Besuch der Gedenkstätte durch eine Schulklasse wirkt bestimmt bei vielen erst später. Vielleicht will man seine Gefühle auch gegenüber den Mitschülern nicht zeigen.
    Wir waren beim Besuch unseres 16-jährigen Enkels jetzt zu Ostern sehr überrascht. Er wollte uns von sich aus mehrere Filme aus der Zeit des Nationalsozialismus zeigen. Wir waren sehr beeindruckt, wie sich im Laufe eines Jahres sein Interesse entwickelt hat.
    Anita