Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963-65
Im Jahr 1963 sorgte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in den Augen vieler für einen Eklat. Ihm und seinem unermüdlichen Einsatz ist es zu verdanken, dass 21 SS-Männer und ein sogenannter Funktionshäftling auf die Anklagebank kamen, die zwei Jahrzehnte zuvor an der Tötungsmaschinerie des Vernichtungslagers Auschwitz beteiligt gewesen waren. Die Urteile, die zwei Jahre später verkündet wurden, waren lächerlich, doch deren „Vollstreckungen“ geradezu eine Farce: „Bis zum Herbst 1970, also fünf Jahre nach dem Urteil des Schwurgerichts, waren alle Angeklagten, die zu zeitigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, aus der Untersuchungs- bzw. aus der Strafhaft entlassen worden“ (Werner Renz: Fakten zum Auschwitzprozess, Fritz-Bauer-Institut), von den sechs „Lebenslänglichen“ wurde einer 1975 begnadigt und zwei Ende der 1980er aus der Haft entlassen.
"...dass Deutschland sich weiter seiner Verantwortung stelle"
Nun stehen die unzähligen Akten und Tonbandmitschnitte zum Frankfurter Auschwitzprozess vor der Aufnahme ins Dokumentenregister der Welt, das UNESCO-Register „Memory of the World“. Ein positives Votum aus Paris gelte als weitgehend sicher, schreibt focus-online, bisher sei noch kein deutscher Antrag an das digitale Archiv abgelehnt worden. „Die geplante Aufnahme“, so wird Hessens Wissenschaftsminister Rhein (CDU) zitiert, „sei ein wichtiges Zeichen an die Welt, dass Deutschland sich weiter seiner Verantwortung für die NS-Verbrechen und den Holocaust stelle.“
Nun – wenn ich den aktuellen Prozess gegen den SS-Sanitäter Hubert Zafke verfolge (der mutmaßlich einer der letzten sein wird), muss ich doch sehr an Rheins Statement zweifeln. Lese ich doch davon, dass Nebenklagen „aus spitzfindigen Gründen abgelehnt werden“ (taz), dass die Staatsanwaltschaft Schwerin und der Anwalt eines Nebenklägers „Befangenheitsanträge gegen das Gericht gestellt [haben], weil sie Anzeichen dafür sehen, dass das Gericht eine Einstellung des Verfahrens anstrebt“ (Süddeutsche) und „die Verlesung der Anklage [...] gar nicht erst geplant war“ (tagesspiegel). Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, bezeichnete den Prozess gar als „Schmierentheater“ (Jüdische Allgemeine).
Kollektive Schuld gibt es nicht
Zu allererst sei einmal klargestellt, dass wir es hier mit einem Missverständnis zu tun haben. Deutschland ist nicht für die NS-Verbrechen verantwortlich. Deutschland ist für gar nichts verantwortlich, denn verantwortlich sein oder Schuld tragen können nur Subjekte. Deutschland ist eine der Synekdochen, auf die vor allem dann gerne zurückgegriffen wird, wenn man sich einer Verantwortung entziehen will! Wenn man keine konkreten Personen anspricht, sondern diese allesamt unter die äußerst weite und wenig greifbare Bezeichung für eine Nation steckt, kann man nämlich vor allem eines: sich zurücklehnen. „Dergleichen wie kollektive Schuld oder kollektive Unschuld gibt es nicht“, schreibt Hannah Arendt in ihrem 1989 erstmals veröffentlichten Essay Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?*, „der Schuldbegriff macht nur Sinn, wenn er auf Individuen angewendet wird.“
Weiter geht es mit der Verantwortung. Verantworten kann ich Taten nur, wenn ich sie entweder selbst begangen habe oder aber die Möglichkeit besteht, dass ich jene Taten (der anderen) durch mein Eingreifen unterbinden kann. Der Holocaust jedoch ist geschehen. Die meisten von uns haben diese Taten demnach nicht begangen – und unterbinden können wir sie auch nicht mehr, da sie längst traurige Geschichte sind. Einer der wenigen, die sich hier und heute noch ihrer Verantwortung stellen könn(t)en, heißt Hubert Zafke.
Ver-antworten oder Ver-schweigen?
Besser hätte Rhein also formuliert: „Die geplante Aufnahme ist ein wichtiges Zeichen an die Welt, dass die Mitglieder der gegenwärtigen deutschen Regierung und der Gerichte sich weiter ihrer Verantwortung für eine lückenlose Aufarbeitung der NS-Verbrechen und des Holocaust stellen.“ [Man weiß allerdings auch, wie Zeitungen zitieren - sollte Herr Rhein ohnehin etwas ganz anderes gesagt haben, so betrifft meine Kritik den focus-Redakteur.]
Wahrer wird die Aussage durch solche alternativen Formulierungen aber leider nicht.
Denn rein etymologisch hat Verantwortung etwas mit Antworten zu tun, ja, mit Rede und Antwort stehen. Etwas zu verantworten heißt, sich zeigen, sich zu Wort melden – mit dem Wissen, dass man gesehen und gehört wird. Verantwortung zeigen bedeutet also zugleich Haltung zeigen - eben zu etwas stehen.
Dass jene Akten und Tonbandmitschnitte als Zeitzeugnisse von extremer Wichtigkeit sind, steht außer Frage. Doch die symbolische Aufwertung durch die UNESCO darf nicht mit konkreter Aufarbeitung verwechselt werden. Denn Nebenklagen auszuschalten und mit fragwürdigen Argumenten einen Prozess einstellen zu wollen, hat nicht im Geringsten etwas mit Ver-antwortung zu tun. Sondern mit Ver-schweigen. Und da hilft leider auch die Aufnahme von 50 Jahre alten Tonbandmitschnitten in ein UNESCO-Archiv nichts.
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*Arendt, Hannah: Was heißt politische Verantwortung unter einer Diktatur?, in Arendt, Hannah: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare. S. 81-98. 2. Auflage. Berlin 2014.
Die Meldung, auf die ich mich in diesem Blogpost beziehe, kann hier nachgelesen werden (letzter Zugriff am 10.06. um 11:07 Uhr).
Jutta Frick (Freitag, 10 Juni 2016 14:05)
Großartig, Julia,
sehr kritisch und sachbezogen! Ich bin immer wieder verblüfft über deine Kenntnisse und deinen tollen Schreibstil!
Deine Texte sollten, müssten/sollten auch noch an weit hervorgehobeneren Stellen/Adressen gelesen werden - hast du schon mal daran gedacht, solche Beiträge z.B. den Kieler Nachrichten anzubieten?
Mach weiter so!