Sehr persönliche Note - Eindrücke von der Gedenkfeier für die Opfer von NS-'Euthanasie' und Zwangssterilisation am 3. September 2016

Die Sonne hatte bereits jeden Winkel für sich eingenommen, als die Gäste gegen 14 Uhr nach und nach das Südfoyer der Berliner Philharmonie betraten. Schon in der Begrüßung durch Ruth Fricke, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des Bundes Psychiatrieerfahrener (BPE), wurde die persönliche Note der Gedenkfeier deutlich. Fast alle Redner_innen, so Fricke, hätten damals wohl auf den Listen der Ärzte gestanden, die zwischen 1940 und 1945 über Leben und Tod der Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten entschieden.

 

Die Gedenkfeier zu Ehren der Opfer von NS-‚Euthanasie‘ und Zwangssterilisation, die seit einigen Jahren immer am ersten Samstag im September in Berlin stattfindet, ist gewissermaßen das Pendant zu derjenigen am 27. Januar. Auch am offiziellen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus findet jährlich eine Gedenkveranstaltung in Berlin statt, ausgehend von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele.

 

Und so war es auch Frau Bentele, die sich als erste Rednerin mit einem Grußwort an die Gäste richtete. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, betonte sie, sei nicht nur wichtig, um der Opfer zu gedenken, sondern auch, um Gegenwart und Zukunft sinnstiftend gestalten zu können.

 

Diesem Aktualitätsbezug schloss sich Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD) an. Er betonte in eindrücklicher Weise, dass auch unsere Gesellschaft sich mit einem Gedankengut auseinandersetzen muss, das von „uns“ und „den anderen“ spricht. Damals wie heute, machte Hanke deutlich, ging es einem Teil der Bevölkerung darum, den „Volkskörper“ zu schützen, ihn „gesund“ bzw. „rein“ zu halten. Dies zeige, dass menschenverachtende und stigmatisierende Ideologien wie die der Eugenik („Rassenhygiene“) keineswegs eine rein historische Angelegenheit seien.

Nach der Gedenkfeier wurden Blumen und Kränze am Gedenkort T4 niedergelegt. (Foto: M. Gilfert)
Nach der Gedenkfeier wurden Blumen und Kränze am Gedenkort T4 niedergelegt. (Foto: M. Gilfert)

Helmut Vogel, Historiker und Präsident des Deutschen Gehörlosenbundes (DGB) stellte in einem kurzen Vortrag den Film „Gehörlose Opfer der Zwangssterilisation und der Euthanasie in der NS-Zeit“ vor, den er in Zusammenarbeit mit dem Kameramann Jürgen Endress produziert hat. In einem etwa 25-minütigen Ausschnitt kam unter anderem die aus Eschweiler stammende Anna Oswald zu Wort, die als junge Frau zwangssterilisiert wurde. Der komplette Film ist auf der Website der Bundesvereinigung für Kultur und Geschichte Gehörloser e.V. kostenlos verfügbar. Mit Tonspur, Gebärdensprache und Untertiteln ist er nahezu barrierefrei, ein Audiokommentar für Sehbehinderte sei geplant.

 

Im Anschluss an die Filmvorführung durfte ich den Anwesenden aus der Lebensgeschichte meines Großvaters und von meiner mittlerweile sechsjährigen Recherche erzählen. In diesem Zusammenhang trug ich auch eine seiner Kompositionen, das „Wiegenlied“ aus dem Jahr 1932, vor. Seine Musik der Öffentlichkeit zu zeigen, bewegt mich immer wieder sehr, und Gleiches kann ich von den Zuhörer_innen sagen. Besonders freue ich mich darüber, dass dadurch nun auch endlich eine aktuelle (Live)Aufnahme des Wiegenliedes vorliegt, die am Ende dieses Blogartikels angehört werden kann. Ebenso ist dort der Text des Werkes zu lesen.

 

Beschlossen wurde die Feier mit berührenden Worten von Dr. Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL). Sie ließ Erich Fried sprechen, in dessen Gedicht „Die Maßnahmen“ es bitter-sarkastisch heißt: „Die Narren werden geschlachtet, die Welt wird weise. Die Kranken werden geschlachtet, die Welt wird gesund.“ Hinter jedem Vers ein ungläubiges, unsichtbares Fragezeichen.



Wiegenlied (1932)

Walter Frick

 

Leise gehet draus der Wind,

leiser atmet noch mein Kind.

Still, ihr Winde, weckt es nicht.

Schlafe, schlafe.

 

Milde strahlt der Lampe Schein,

milder blickt das Äuglein klein

aus dem süßen Angesicht.

Schlafe, schlafe.

 

Arme Herberg fanden wir,

ärmer ist dein Bettlein hier,

aber Liebe wiegt dich ein.

Schlafe, schlafe.

 

Sei nur reich an Liebe, du,

wend dich Gottes Liebe zu.

Sie erfüllt das Herze dein.

Schlafe, Schlafe.

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