Ein Denkmal auf Reisen - Publikation zum Denkmal der Grauen Busse erschienen

Im Sommer diesen Jahres ist ein interdisziplinärer Sammelband zum Denkmal der Grauen Busse erschienen, das seit 2007 als mobiles Erinnerungszeichen an die NS-"Euthanasie"-Morde erinnert. Für meine Bachelorarbeit - und meinen Blog - hatte ich ein Rezensionsexemplar erhalten. Nun möchte ich Ihnen das Buch hier genauer vorstellen.

 

 

Seit dem 27. Januar 2007 ist die Zufahrt zur ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Weißenau dauerhaft durch einen 75 Tonnen schweren, in Beton gegossenen grauen Bus blockiert. Die Skulptur der Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitz ist einer von zwei identischen Bussen, die damals als Siegerentwurf aus einem Gestaltungswettbewerb der Stadt Ravensburg hervorgegangen sind. Als „zweigeteiltes Erinnerungszeichen“ fangen die Busse seither Blicke, werfen Fragen auf, machen nachdenklich und neugierig. Zweigeteilt sind sie im doppelten Sinne: zum einen, weil beide in der Mitte „durchgeschnitten“ und somit für Fußgänger*innen und Rollstuhlfahrer*innen passierbar sind. Zum anderen, weil nur einer der Busse ein fest stehendes Denkmal im herkömmlichen Sinne ist, während der andere als „bewegtes Denkmal“ an immer neuen Orten aufgestellt wird und verweilt. Orte, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass an ihnen entweder Menschen im Zuge der NS-„Euthanasie“ ermordet wurden, oder aber, dass man sie mit einem der grauen Busse der Tarnorganisation GeKraT („Gemeinnützige Krankentransport GmbH“) von dort weggebracht und in den sicheren Tod gefahren hat.

 

Buchcover (Foto: Julia Gilfert).
Buchcover (Foto: Julia Gilfert).

Nunmehr zehn Jahre nach Einweihung der Grauen Busse von Hoheisel und Knitz blicken jenes „bewegte Denkmal“ und seine Schöpfer und Unterstützer*innen auf eine nicht minder bewegte Geschichte zurück – höchste Zeit also, dieses besondere Denkmal mit einer Buchpublikation zu würdigen. Im Sommer 2017 ist nun also „Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse“, herausgegeben von Thomas Müller, Paul-Otto Schmidt-Michel und Franz Schwarzbauer, erschienen. 

So einmalig wie das Denkmal selbst ist auch die Zusammenstellung der Essays dieses interdisziplinären Sammelbandes. Die darin enthaltenen Beiträge gruppieren sich um drei Themenschwerpunkte. Der Großteil der Essays setzt sich mit medizin- und kulturhistorischen sowie erinnerungskulturellen Aspekten der NS-„Euthanasie“-Morde auseinander. Zwei Beiträge erörtern die Frage nach möglichen literarischen Annäherungen an die Verbrechen der Nationalsozialisten, ohne sich dabei jedoch explizit auf die NS-Patientenmorde zu fokussieren. Die letzten vier Kapitel des Buches wiederum stellen eine Art Reisedokumentation dar, in deren Mittelpunkt der mobile Teil des Denkmals der Grauen Busse steht.

 

Mit Wissenschaftler*innen wie Prof. Dr. Michael von Cranach, Prof. Dr. h.c. Aleida Assmann oder Prof. Dr. Stefanie Endlich hochkarätig besetzt, bietet der vorliegende Band einen fundierten und umfassend recherchierten Überblick und kann für die Leser*innen sowohl Einführung als auch Vertiefung sein. Die einzelnen Essays stehen für sich selbst, sodass die Lektüre des einen nicht zwangsweise den Inhalt eines anderen voraussetzt, was das Gesamtwerk auch für Laien gut lesbar und verständlich macht. 

 

Die erste Annäherung an das Denkmal der Grauen Busse und dessen Rolle in der Erinnerungskultur an die NS-„Euthanasie“-Morde liefert mit Aleida Assmann direkt eine der führenden Persönlichkeiten der literatur- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Das Denkmal der Grauen Busse sei „ein besonders eindrucksvolles Beispiel“ für eine neue Denkmalsform, die Assmann das „unfertige Denkmal“ nennt. Dieses löse Handlungen aus und führe zu „unerwarteten Folgehandlungen“, die sozusagen als Teil einer Dynamik „aus sich selbst heraus“ begriffen werden können. 

 

Die Literaturwissenschaftlerin Susanne C. Knittel befasst sich in einem ersten Teil ihres Essays mit dem Unheimlichen in der Geschichte. Ein weiterer Teil kreist um die Frage, warum das Verbrechen der NS-„Euthanasie“ so lange verdrängt werden konnte. In den letzten Abschnitten ihres umfassenden Beitrags diskutiert die Autorin am Beispiel Grafenecks die Funktion, die NS-(„Euthanasie“)-Gedenkstätten als Heterotopien (Michel Foucault), also als Gegenräume, einnehmen.

 

Wie es aussehen kann, wenn sich eine psychiatrische Klinik, die im Dritten Reich an den Mordaktionen beteiligt gewesen war, der eigenen Vergangenheit stellt, berichten die Mediziner Thomas Müller und Paul-Otto Schmidt-Michel. So begannen in Ravensburg-Weißenau, dem Ort, an dem der festinstallierte Graue Bus zu finden ist, in den 1980er-Jahren einige dort Beschäftigte, die Geschichte des Hauses zu erforschen. Die Autoren stellen in ihrem Artikel einige diesbezügliche Initiativen vor. 

 

Dass nicht nur in Ravensburg-Weißenau in den 1980er-Jahren Prozesse der Aufarbeitung und des erinnerungskulturellen Engagements einsetzten, weiß auch der Psychiater Michael von Cranach. In einem ebenso umfangreichen wie ehrlich-authentischen Beitrag gibt er Einblicke in seinen eigenen Werdegang als Psychiater mit Stationen in München, London und Kaufbeuren, der eng mit der Psychiatriereform der 1970er-Jahre verbunden ist. Sein Bericht endet – hochaktuell – mit der Gedenkstunde des Bundestages am 27. Januar 2017. 

 

In zwei aufeinander folgenden Beiträgen beleuchtet Mitherausgeber Paul-Otto Schmidt-Michel schließlich zwei weitere medizinhistorische Aspekte: Der Artikel „Post wohin?“ befasst sich mit Briefen von Angehörigen an Opfer der „Aktion T4“. Am Beispiel einer Deportation von 140 Patient*innen von Bedburg-Hau nach Zwiefalten zeigt der Autor, dass die Briefe ihre Empfänger*innen meist gar nicht erreichten und die Angehörigen im Unwissen oft noch lange nach dem Mord an ihren Verwandten Briefe und Päckchen an diese schickten. Das zahlreich abgedruckte Archivmaterial ist hier besonders hervorzuheben (wenngleich weniger in diesem Fall eventuell mehr gewesen wäre). 

 

Direkt im Anschluss an diesen Beitrag erörtert Paul-Otto Schmidt-Michel die Funktion der tatsächlichen Busse, mit denen die Patienten in Zwischen- oder Tötungsanstalten deportiert wurden, sowie die Entwicklung hin zu mobilen Gaswagen. Die nüchternen Erklärungen der eingesetzten Technik jener „Gaswagen“ und die Beschreibung von Einsatz und Einsatzgebieten ist dem Inhalt zwar angemessen, insgesamt aber erscheint dieser Artikel vor allem eine „informative Notwendigkeit“ im großen Ganzen der Thematik darzustellen.

 

Der Germanist Franz Schwarzbauer eröffnet mit seinem Essay „Zum Beispiel Götz und Meyer. Oder Dora Bruder. Von den Chancen literarischer Vergegenwärtigungen des Holocaust“ den zweiten Schwerpunkt des Sammelbandes. So stellt er am Beispiel der Romane „Götz und Meyer“ (David Albahari) und „Dora Bruder“ (Patrick Modiano) Methoden vor, mit denen auf wahren Begebenheiten basierende fiktionale Literatur arbeitet, um Authentizität zu erzeugen. Trotz seines Umfangs (mit 35 Seiten ohne Abbildungen der längste Beitrag des Buches) ist Schwarzbauers Essay sehr gut lesbar. Statt in einer Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur nach dem Holocaust ein weiteres Mal Theodor W. Adorno zu bemühen, beschreitet der Autor erfreulicherweise neue Wege. So führt er etwa die Literaturwissenschaftlerin und Holocaustüberlebende Ruth Klüger an, die in einer ihrer Vorlesungen Geschichte als den „Stoff“ bezeichnet habe, „aus dem man das Kleid der Dichtung zusammenschneidern“ könne. Dass er sich mit Holocaust-Literatur und nicht mit literarischen Verarbeitungen der NS-„Euthanasie“-Morde befasst, ist die einzige Schwäche dieses fundierten Beitrags.

 

Der Beitrag des Literaturwissenschaftlers Cesare Giacobazzi befasst sich anhand des Beispiels „T4. Ophelias Garten“ von Pietro Floridia mit sprachlichen und ästhetischen Fragen an und von Holocaust-Literatur, droht damit aber aus mehreren Gründen hinter Schwarzbauers Ausführungen zu verschwinden. So kontrastieren die Essays nicht nur was den Umfang (Giacobazzis Beitrag umfasst nur 10 Seiten), sondern auch was die Qualität anbelangt. Giacobazzi versäumt, das von ihm untersuchte Werk vorzustellen, vermutlich, weil er das Wissen darum voraussetzt. Den meisten Leser*innen dürfte jedoch erst zum Schluss verständlich werden, dass sie es bei „T4. Ophelias Garten“ mit einem Theaterstück zu tun haben. Die Handlung jenes Stückes bleibt indes auch nach der Lektüre dieses stark theoretischen Artikels unklar. 

 

Mit zwei Essays, die sich dem Ort als definiertem Raum für kulturelle Praktiken widmen, schließen die Kunsthistorikerin Stefanie Endlich und der Judaist James E. Young den Kreis der geschichtlich orientierten Beiträge, indem sie erinnerungskulturelle und denkmalgestalterische Aspekte in den Vordergrund stellen. 

 

Stefanie Endlich greift mit dem Gedenk- und Informationsort an der Tiergartenstraße 4 in Berlin einen „schwierigen Ort“ (vgl. den Titel des Essays) auf. So führt sie in die Geschichte des Ortes und seine Funktion als Planungszentrale der nach ihm benannten Mordaktion „T4“ ein, erläutert aber auch den Prozess der Umgestaltung des Ortes zu einem Gedenk- und Informationsort. Die Neukonzeption des historischen Ortes wurde zwischen 2012 und 2014 im Rahmen eines Gestaltungswettbewerbs realisiert, für den auch Andreas Knitz und Horst Hoheisel einen Entwurf eingereicht hatten. 

 

Dies wiederum dient als direkte inhaltliche Brücke zu James E. Youngs Essay „Negativ-Orte und das Spiel mit dem Denkmal“, in dem der Autor einige Ideen und Arbeiten der beiden Künstler vorstellt und diskutiert. Hier sind vor allem die Begriffe des „Gegen-Monuments“ und des „Nicht-Denkmals“ von Interesse, die die Arbeiten von Knitz und Hoheisel charakterisieren, und die gleichermaßen einen Bogen zurück zu Aleida Assmanns Definition des „unfertigen Denkmals“ schlagen.

 

Den letzten Teil des Buches bildet eine Art Reisedokumentation, in der mit kurzen Texten über die unterschiedlichen Standorte des mobilen Grauen Busses berichtet wird. So bekommt man unter anderem Einblicke in die Aufenthalte des Busses in Berlin, Stuttgart und Heilbronn, erfährt etwas über die Geschichte der Diakonie im fränkischen Neuendettelsau und warum der Bus in Kassel, München und Poznan (Posen) war. 

Hierbei wird nicht nur die weitreichende Wirkung eines Denkmals deutlich, das eine Dynamik aus sich selbst heraus entwickelt (vgl. Assmann). Den Leser*innen wird auch eindrücklich vor Augen geführt, wie großflächig die NS-„Euthanasie“-Morde durchgeführt wurden – denn jeder Ort, an den der Bus gebracht wird, ist mit den Morden verknüpft. Zum Schluss der Dokumentation ergreifen schließlich die Künstler selbst das Wort, erläutern noch einmal in ihren Worten Idee, Entwicklung und Botschaft ihres Denkmals der Grauen Busse. 

 

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Zusammenfassend ist diese Publikation jedem Menschen ans Herz zu legen, der sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst bzw. (nachwirkend) von ihr betroffen ist. Sowohl Laien als auch (Nachwuchs)Wissenschaftler*innen aus den verschiedensten Disziplinen werden hier wertvolle Anregungen und fundiertes Hintergrundwissen gleichermaßen finden. Als angehende Kulturanthropologin musste ich zwar feststellen, dass leider niemand aus „meinem“ Fachgebiet unter den Autor*innen zu finden ist. Dies ist jedoch nur ein kleiner Wermutstropfen angesichts der oft über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaus blickenden Beiträge.

 

Dass der letzte Teil des Buches auch gut an einleitender Stelle hätte stehen können, ist vermutlich eher eine Frage des eigenen Gliederungsbedürfnisses und nicht zuletzt: des Geschmacks. Dem Verständnis der vorangestellten Essays ist dadurch kein Abbruch getan, dass die Künstler nicht das erste, sondern (durchaus verdientermaßen) das letzte Wort dieses Sammelbandes haben. Und so sollen sie auch hier nun das letzte Wort haben, um das zu tun, was Künstler nun einmal gerne tun: Zum Nachdenken anregen. 

 

 

„Erinnerung ist ein Prozess. Sie schafft Bilder, vergisst Bilder, verändert sich ständig, ist immer in Bewegung. Wahrscheinlich wollen wir sie deshalb so gerne in unbewegliche, feststehende Monumente aus Stein und Bronze bannen und für die Ewigkeit dort fixieren.“

 

(Horst Hoheisel und Andreas Knitz)

 

 


 

Thomas Müller, Paul-Otto Schmidt-Michel und Franz Schwarzbauer (Hrg.):

Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse. 

Mit Zeichnungen von Horst Hoheisel.

 

Das Buch hat 279 Seiten und ist im Juni 2017 als gebundenes Buch im Verlag Psychiatrie und Geschichte (Zwiefalten) erschienen.

 

Bestellbar direkt beim ZfP Südwürttemberg.

 

 

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